Was für ein prächtiger Frühlingstag. Gelb triumphierende Forsythien vor knallblauem Himmel. Ich habe uns einen kleinen Tisch aufgestellt und serviere meiner Frau Lasagne mit Salat. Sie Köchin, ich Butler. Rundum uns Veilchen, Gänseblümchen, Himmelschlüssel. Drinnen arbeiten die Kinder an ihren via Email zugestellten Hausübungen. Schon etliche Jahre wohnen wir hier, noch nie hatten wir an einem Märzmontag ein Mittagessen zu zweit im Freien.
„Eine Idylle“, sag ich halblaut. Und wir beide wissen, dass sie trügerisch ist. Heute ist nämlich der erste „CorCooning“-Tag im Vollausbau. Diesen Begriff gebaren meine Frau und ich vor fünf Tagen, als greifbar wurde, dass eine familiäre Kasernierung auf uns zukommt. Cocooning war gestern, ein Nischenprogramm: „das vollständige Sichzurückziehen in die Privatsphäre; das Sichaufhalten zu Hause als Freizeitgestaltung“. Was nun neu auf Wikipedia aufzunehmen ist: „Cor coo·ning: staatlich verordnetes Sichzurückziehen; das massenhafte Sichaufhalten zu Hause als Alltagsgestaltung aufgrund Corona-Pandemie“.
Vieles geht mir durch den Kopf, manches liegt mir auf der Zunge. Doch meine Frau hat sich verbeten, zum Essen aktuelle Krisenmeldungen aufgetischt zu bekommen. Als Unternehmer habe ich die letzten Tage mit Absagen und Verschiebungen zugebracht: Es legt die nächsten 100 Tage flach, dann kommt der Hochsommer mit einer Auftragsflaute. Im Geiste durchwandere ich meine Kalkulationen: „Geht sich das gut aus?“
Diese Frage stellen sich derzeit hunderttausende UnternehmerInnen, Freiberufler und Ein-Personen-Unternehmen in Österreich, Millionen in Europa, zig Millionen auf dem gesamten Planeten. Und weltweit wohl hunderte Millionen ArbeitnehmerInnen. Nein, es wird sich für viele nicht gut ausgehen. Die Rezession wird schnell kommen und tief greifen. Was sich derzeit in der Realwirtschaft und an den Börsen abspielt, ist jenseits von dramatisch. Viele österreichische und internationale Leitbetriebe haben sich innerhalb eines Monats in ihrer Kapitalisierung fast halbiert. Anders als in der 2008er Krise sind von Beginn an aber auch die Kleinst-, Klein- und Mittelbetriebe voll betroffen. Die unendliche Flut an Stornos und Absagen überzieht fast alle Branchen.
Was hier auf uns zurollt, können wir aktuell weder zahlenmäßig noch emotional erfassen. Es wird uns als Menschen und Gesellschaften viel abverlangen. Wo wir individuell und gemeinsam ankommen werden, ist offen. Für die unmittelbare Zukunft können einige Hypothesen aufgestellt werden, denn wir kennen die Prozessdynamik von Verlustbewältigung:
Noch sind wir mehrheitlich im „Nicht-Wahrhaben-Wollen“, in der Verdrängung. Sowohl kognitiv als auch emotional. Twitter kippt dieser Tage schon in die Phase 2, alle werden folgen: „Aufbrechende Emotionen“. Gefühle wie Wut, Schmerz und Zorn werden um sich greifen. Aggression. Einerseits sind diese Gefühle wichtig für die weitere Bewältigung und wir müssen sie individuell und kollektiv zulassen. Andererseits gilt es, die (öffentliche) Ordnung aufrecht zu erhalten. Keine leichte Gratwanderung.
Es folgt sodann die Phase des „Suchens und Sich-Trennens“. Wir werden von vielem bewusst Abschied nehmen. Von lieben Verstorbenen, wohl auch vom wirtschaftlichen Alltag in der bisherigen Ausprägung. Die Rezession wird sich in eine Finanz- und Wirtschaftskrise übersetzen. „Never waste a good crisis“, heißt es. Aber wir haben die 2008er Krise verschwendet, systemisch kaum Lehren gezogen. Wir haben uns Zeit gekauft und diese kaum genutzt. Das Pulver der Europäischen Zentralbank ist weitgehend verschossen. Vor einer Ausdehnung der EZB-Anleihenkäufe auf Aktien ist zu warnen. Die Verteilungseffekte der exzessiven Geldschwemme der letzten Jahre war verheerend. Das Geld landete aufgrund von Informations- und Netzwerkvorsprung vorwiegend bei solchen, die schon Geld hatten. Wenn dieser Weg fortgesetzt wird, endet er im Aufstand. Deswegen sind – für Herbst folgend – alternative Instrumente zu prüfen: beispielsweise Konsumschecks als Helikoptergeld. Ein sogenannter helicopter drop für jeden Haushalt in der Eurozone könnte beim Wieder-Durchstarten volkswirtschaftlich und sozialpolitisch helfen.
Insgesamt werden wir unsere Systeme neu definieren müssen. Hier kippen wir in die letzte Phase: Es geht darum, einen neuen Selbst- und Weltbezug zu etablieren. Die Einladung zur Umgestaltung unseres Wirtschaftssystems auf eine echte sozial-ökologische Marktwirtschaft liegt auf der Hand, wenngleich diese Option im Kampf um knappe Ressourcen keinen einfachen Stand haben wird. Die Krise lädt zudem zu Innovationssprüngen ein: Die Irritation ist die Mutter der Innovation. So viel Irritation wie derzeit hat die Welt seit 1945 nicht mehr gesehen. Welche Blüten dies treiben wird, ist noch nicht absehbar. Eines ist schon sicher: Der Corona-Virus wird zu einem bislang unvorstellbaren Treiber für Digitalisierung. Wir werden nicht nur Kommunikationsprozesse neu erfinden, sondern ganze Geschäfts- und Unternehmensmodelle.
Der Einschnitt wird tief sein. Doch die Zeit nach Corona bedeutet Aufbruch – gesellschaftlich, wirtschaftlich und individuell. Die Suchspannung nach dem Neuen ist offensichtlich und wird weiter anwachsen. Wir haben auf story.one – eine Online-Plattform, bei der ich mit anpacke – am Wochenende einen Aufruf zu #CorCooning-Geschichten gestartet. Die Menschen erzählen von ihrem neuen Alltag, ihren Erlebnissen, Ideen und Sehnsüchten. Am Samstag kam ein Beitrag mit dem Titel „Corona – nichts wird mehr sein, wie es war“. Sonja Schiff, beruflich im Pflegebereich, ist sich sicher: „Corona wird uns verändern, jeden Einzelnen und unsere Gesellschaft.“ Sie beschreibt wie Menschen einander helfen, die neue Solidaritätswelle, die aufkeimende Kreativität, wie in Triest die Delfine nach Jahren wieder nah an die Stadt heranschwimmen, wie in den Kanälen von Venedig gerade tausende Fische geboren werden im plötzlich wieder klaren Wasser. „Corona bringt das Leben irgendwie auf den Punkt“, meint sie. Und dass es irgendwann vorbei sein werde und wir dann auf die Straßen laufen werden, „uns umarmen, miteinander weinen, lachen und feiern.“ Diese Geschichte hat am Sonntag unsere Server in die Knie gezwungen. Allein bis Dienstag wurde sie rund 1,5 Millionen Mal gelesen.
Die Sehnsucht der Menschen ist groß. Als hätten wir auf eine Krise gewartet, die uns ein neues Morgen bringt. Wir sollten gut hinschauen und hinhören, was uns diese Sehnsucht erzählt. Und wir sollten dies dann zu einem nachhaltigen Teil unserer neuen Realität machen, wenn sich der Sturm gelegt hat. Dann, wenn ein idyllisches Mittagessen im Garten an einem Märzmontag nicht mehr trügerisch sein wird.
Matthias Strolz
Autor, Portfolio-Unternehmer und Bürgerbeweger, www.strolz.eu
Gastkommentar ist am 17.03.2020 in der Tageszeitung Die Presse erschienen.